Sonntag, 10. Juli 2016

Okubo- Zu Besuch bei meinem Ur-Großonkel




Mit einem kleinen Stock schiebt mein Vater den Riegel des Eingangstores zurück. 
Meine Schwester und ich ziehen mit Leibeskräften am massiven Tor und machen ein Wettrennen zum Haus. Doch es ist wie fast jedes Mal niemand da. 
So geht es wieder zurück Richtung Tor und durch den verwilderten Garten hin zur kleinen Holzhütte am Rande des Grundstücks.

Obwohl der Okubo nebenan ein schönes, großes Haus gebaut hat, sind er und meine Ur-Großtante fast immer hier. Mein Vater sagt, dass es etwas mit dem Krieg zu tun hat, den die beiden miterlebt haben. Die Hütte ist kaum mehr als ein Verschlag aus Holz, es gibt wenig Platz und überall liegen Katzen. 

Vor der Schiebetür bremsen wir ab, öffnen diese und rufen sittsam "konbanwa". Dort sitzt mein Ur-Großonkel mit seiner Schwester, umringt von den vielen dösenden Katzen. Er wird von uns allen, solange ich denken kann, schon immer Okubo genannt. Nach dem Viertel, in dem er lebt. 
Der Ofen brennt und sie trinken grünen Tee. 
Sobald der Okubo mich mit seiner strengen, heiser-rauhen Stimme anspricht, bin ich auf der Hut. 
Ihn umgibt eine starke Aura, sein Blick ist schwer zu deuten und seine Reaktion meist ungewiss. In seinen Augen, die schon zuviel sehen mussten, erkennt man einen wachen Geist. Mein Vater und sein Bruder behandeln ihn mit großer Ehrfurcht. 
Wenn der Okubo seinem Restaurant einen Besuch abstattet, stehen dort alle stramm. 
Hier müssen wir Kinder uns benehmen, auch wenn er mit den Jahren um einiges nachsichtiger geworden ist.

Meine Ur-Großtante, "Obachan" genannt, ist eine der sanftmütigsten Frauen die ich kenne. 
Sie verwöhnt uns Mädchen, wo sie nur kann. 
Schenkt uns oft lauter Leckereien und bürstet uns bei jedem Besuch liebevoll die Haare. 
Klein und gebeugt steht sie auf der Terrasse und behält uns mit einer Engelsgeduld im Auge, während wir stundenlang durch den Garten stromern. Dabei liegt meist ein leichtes Lächeln auf ihren Lippen. 
Ihr Körper ist von der Arbeit und dem Alter gezeichnet. Ihre grauen Haare hat sie zu einem Dutt gedreht und werden von einer schönen Spange zusammengehalten. 
"Aichan" ruft sie mit ihrer dünnen Stimme. Wir gehen zurück zur Hütte. 
Dort stochert Obachan mit langen Metallstäbchen in dem großen Porzellanbottich herum. 
Die Kohlen glühen auf. 
Das Gitter oben auf scheint heiß genug, denn nun werden Mochi* daraufgelegt und gegrillt. 

Wir schweigen, ich starre gebannt in die Glut, während die Minuten vergehen. Ich beobachte fasziniert das leichte Auf und Ab der Mochi, wenn diese von der Hitze Blasen schlagen. 
Fast scheint es, als würden sie auf dem Grill zum Leben erwachen. 
Zeit das Mochi umzudrehen, eine Seite bereits perfekt, wieder wird gewartet. 
Obachan füllt etwas Sojasauce in einen flachen Teller. 
Mein Vater reicht ihr die Noriblätter. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen. 
Dann wird das erste Mochi in die Sojasauce getunkt. 
Es zischt kurz, die Oberfläche dunkel glänzend gefärbt, bevor es in ein Noriblatt gewickelt wird. Ich bekomme das Erste. 
Jeder hier weiß, wie verrückt ich nach Mochi bin und niemand würde mir meinen Platz am Bottich streitig machen und das erste Stück verwehren. 
Ich glaube, meine Eltern freut es sogar ein bißchen, so ein essverrücktes kleines Mädchen zur Tochter zu haben. 

Das Mochi schmeckt herrlich. 
Wie meine Zähne durch das knusprige Noriblatt auf das weiche Mochi treffen, ist einfach ein perfekter Moment und ich schließe kurz meine Augen. 
Ich fühle den Blick meines Ur-Großonkels auf mir liegen. 
Verstohlen schaue ich zu ihm. 
Und sehe einen Moment lang soviel Güte und Freude in seinen Augen, dass es mir ganz eng ums Herz wird. 
Am liebsten würde ich zu ihm krabbeln, um ihn mit meinen Ärmchen sehr fest zu drücken. 
Der Augenblick vergeht. 
Ich bringe ein Lächeln zustande und schlucke den letzten Bissen hinunter. Leicht verlegen und mit wohligem Gefühl, drehe mich wieder zur Glut und verliere mich alsbald in dem warmen Glimmen der Kohlen. 



Mein Ur-Großonkel und Tante haben bis zuletzt lieber in ihrer kleinen Holzhütte gewohnt. 
Ich denke gerne an die Momente dort und vermisse sie sehr. 
Sie sind ein wichtiger Teil meiner Vergangenheit. 
Gerne hätte ich beide besser kennen gelernt und schaue dankbar auf die gemeinsame Zeit zurück. 






* japanische Reiskuchen, die sowohl herzhaft als auch süß zubereitet werden können.